Leseprobe für Praktisches

Die Atmung  und das Gehör

Diesen zwei Themen widme ich eigene Seiten, weil sie meist unterschätzt werden, obwohl sie im Alter von grosser Wichtigkeit sind.

Die Atmung

Ältere Menschen sterben nach einer Operation oder im Altersheim oft an einer Lungenentzündung. Die Patienten überleben nur, wenn früh genug gehandelt und massiv Antibiotikum verabreicht wird. Trotzdem sind sie danach sehr geschwächt.

Auch mein Vater hatte praktisch jeden Winter eine Lungenentzündung, die im Spital behandelt werden musste. Weil sich diese Krankheit in unserem Bekanntenkreis häufte, erkundigte ich mich eingehend über deren Ursache, die banaler kaum sein könnte.

Aus irgendeinem Grund vergessen wir älteren Menschen, tief in die Lungen zu atmen. Beim Atmen verlassen wir kaum noch unsere Komfortzone und belüften daher die unteren Lungenflügel ungenügend. Oft hängt dies auch mit einer verstopften Nase zusammen, die dazu führt, dass wir durch den Mund atmen. Die Mundatmung ist jedoch immer oberflächlich und bringt einerseits Viren und Bakterien direkt in die Lunge, weil der Nasenfilter fehlt. Andererseits bleiben vor allem in den unteren Regionen diese eingeführten Viren liegen, weil dort die Lunge durch die oberflächliche Atmung nicht mehr aktiviert wird. Ist der Patient nach einer Operation bettlägerig, verkümmern zudem die hinteren, unteren Lungenregionen innerhalb von Tagen.

In Spitälern gibt es extra Atemtherapeuten, die mit den Patienten atmen oder es werden Geräte fürs Atmungstraining zur Verfügung gestellt. Diese Atmungstrainer werden jedoch selten genutzt, weil der kurzatmige Patient zu wenig Energie für ein Training hat.

Gewöhnen Sie sich an, in gesundem Zustand mehrmals täglich ganz bewusst tief in den Bauch und den unteren Rücken zu atmen, um Lungenentzündungen vorzubeugen.

 

Das Gehör

Der Gehörsinn allein ist nicht entscheidend dafür, wie gut ein Mensch hört, auch das Gehirn spielt eine wichtige Rolle. Dieser entscheidende Zusammenhang von Gehör und Gehirn ist kaum bekannt, deshalb will ich näher darauf eingehen.

Als ich mit meinem schwerhörigen Vater schlussendlich einen Ohrenarzt aufsuchte, meinte der Arzt, dass wir ungefähr 20 Jahre zu spät gekommen seien und klärte mich auf, dass unser Ohr nur Lärm aufnimmt, keine Sinn bildenden Worte.

Sie können sich dies wie bei einer noch nie gehörten Fremdsprache vorstellen: Sie hören Laute und Worte, wissen jedoch nicht, was gesagt wird. Alles, was Sie hören, ist ein Stimmenlärm. Erst wenn Sie die Fremdsprache lernen und üben, entwickelt sich in Ihrem Gehirn ein Areal für diese Fremdsprache. Deshalb kann später das Ohr den Stimmenlärm an dieses Areal senden und dieses verwandelt dann den Lärm in sinnhafte Sprache. Das Sinnhafte wird also nicht mit dem Ohr gehört, sondern vom Gehirn „entschlüsselt“. Falls Sie diese Fremdsprache nie mehr üben oder hören, sendet das Ohr keinen entsprechenden Stimmenlärm mehr an dieses Areal im Gehirn. Das Areal entwickelt sich zurück und plötzlich verstehen Sie die Fremdsprache nicht mehr, obwohl Ihr Ohr sie hört. Das Gleiche gilt auch für die Muttersprache.

Mein Vater hörte auf dem linken Ohr schon seit vielen Jahren nichts mehr. Entsprechend gab es auch keine Signale mehr zum Sprachareal im Gehirn. Deshalb bildete sich das Sprachareal zurück und konnte nicht mehr reaktiviert werden. Auf dem rechten Ohr war das Sprachareal noch vorhanden, aber auch dort verstand er nur ungefähr zwei bis drei von zehn Worten.

Der Arzt meinte, dass durch das Tragen eines Hörgerätes und durch tägliches Training wieder vermehrt Stimmenlärm an das Sprachareal im Gehirn gesendet werden würde, sodass sich dieses wieder soweit aufbauen könnte, dass mein Vater fünf bis sechs von zehn Wörtern verstehen würde. Allein dies hätte die Lebensqualität verbessert.

Doch Sie ahnen es: Mein Vater bekam zwar ein Hörgerät, aber er aktivierte es meist nicht, weil er ja nicht besser verstand als ohne. Schlimmer noch, der unverständliche Stimmenlärm wurde laut. Mein Vater war nicht mehr in der Lage zu begreifen, dass er – um besser verstehen zu können – üben müsste. Stattdessen meinte er, das Hörgerät sei von schlechter Qualität und daher nutzlos.

Sicher kennen auch Sie Hörgerätträger, die mit dessen Qualität unzufrieden sind. Vor allem in Gesellschaft, wenn viele Menschen sprechen, sollen diese Hörgeräte angeblich versagen. Tatsache ist jedoch, dass es meist weder am Gehör noch am Hörgerät liegt, wenn wir im Alter einem Gespräch unter vielen nicht mehr folgen können. Vielmehr liegt dies am Verlust der selektiven Aufmerksamkeit, die durch eine Veränderung im Gehirn verursacht wird. Das Gehirn nimmt dann beim Zuhören zu viele Stimmen wahr und hat Mühe, das eigentliche Gespräch herauszufiltern und zu interpretieren. Dieses Problem kann weder ein neues Hörgerät, noch eine andere Einstellung des Hörgerätes lösen. Abhilfe schafft nur das Training der selektiven Aufmerksamkeit.

Aber der Zusammenhang von Gehör und Gehirn wirkt auch in die umgekehrte Richtung: Wenn wir uns Informationen nicht gut merken können, hat dies nicht zwingend mit dem Gedächtnis zu tun, sondern kann auch am Gehör und natürlich an der selektiven Aufmerksamkeit liegen. Denn durch das geschädigte Gehör dringen die Informationen eventuell gar nicht richtig zum Gehirn oder wir waren zu wenig lange aufmerksam, um dem Gehirn die notwendige Zeit für die Aufnahme zu geben. Gehör und Gehirn beeinflussen sich im Alter also stark. Deshalb will ich auch noch ausführlicher auf das Thema Gehirn eingehen. Die Ausführungen dazu basieren auf dem Buch „Jung im Kopf“ von Martin Korte, Professor für Neurobiologie. Ein hervorragendes Buch, das Sie sich zum nächsten Geburtstag wünschen sollten.

Das alternde Gehirn

Folgende geistige Funktionen können weniger schnell/gut bewältigt werden:

  • Töne, Bilder und Gerüche verarbeiten.
  • Neue Informationen behalten.
  • Vokabeln lernen.

Zudem werden Reaktionen langsamer, schnelles Auffassen und Handeln schwieriger. Beeinträchtigt ist auch das Erkennen, wann der Körper Wasser benötigt. Vor allem nehmen sowohl die Konzentrationsfähigkeit als auch die Aufmerksamkeit ab. Die verminderte selektive Aufmerksamkeit bewirkt ein sofortiges Verlieren des roten Fadens durch kleinste Ablenkungen beim Erzählen, Nachdenken oder Zuhören.

Unverändert oder gar verbessert sind im Alter folgende geistige Funktionen:

  • Sprachkompetenz
  • Sprachgedächtnis
  • Räumliche Orientierung
  • Schlussfolgerndes Denken
  • Expertenwissen
  • Weisheit
  • emotionale Kontrolle und emotionale Intelligenz

In existenziellen Krisen sind ältere Menschen häufig umsichtiger in ihren Entscheidungen und bedenken die langfristigen Konsequenzen besser.

Im Alter kann den emotionalen Turbulenzen des Lebens mit mehr Flexibilität und Stabilität begegnet werden, weil diejenigen Gehirnareale, die Gefühle bewerten und kontrollieren, besser miteinander in Einklang stehen. Gefühle werden im Alter nicht unwichtiger, können jedoch besser als in jungen Jahren eingeschätzt und kontrolliert werden. Herz und Verstand, Gefühle und Denken sind besser miteinander in Einklang zu bringen.

Auch die emotionale Intelligenz nimmt im Laufe des Lebens zu. Zur emotionalen Intelligenz gehört der Zugang zu den eigenen Gefühlen, die Fähigkeit, zwischen den einzelnen Gefühlsregungen unterscheiden zu können, Menschenkenntnis, der gekonnte Umgang mit Emotionen anderer Menschen sowie das Lösen von emotionalen Konflikten. Ihre volle Entwicklung erreicht die emotionale Intelligenz erst jenseits des 60. Lebensjahres.

„Generell kann man festhalten, dass Genie und Talente eine Sache der Jugend, während Weisheit und Kompetenz Kennzeichen eines alten Gehirns sind. Junge Menschen wagen etwas, während ältere Menschen eher Stabilität suchen. In der ersten Lebenshälfte sind wir schneller, in der zweiten weiser.“[1]

Weisheit gehört zu den am höchsten bewerteten menschlichen Fähigkeiten. Dass die Weisheit trotz Abnahme der geistigen Funktionen mit fortschreitendem Alter zunimmt, hat mit verschiedenen Faktoren zu tun. Zusammengefasst wird Weisheit definiert als Einsicht und guter Rat bei schwierigen Lebensproblemen und die folgenden Aussagen über Weisheit finde ich besonders aussagekräftig:

„Weise Menschen geben meist klare und eindeutige Ratschläge, aber sie wissen auch, dass man anderen Ideen und Erklärungen gegenüber tolerant sein muss – kurzum: Weise Menschen wissen meist um die Relativität von Werten und Zielen.“[2]

„Weisheit besteht darin, mit widersprüchlichen und undurchsichtigen Informationen, widerstreitenden Interessen und unklaren Intentionen umgehen zu können, denn gerade dann ist guter Rat teuer. Weise Menschen sind nicht nur imstande, Ordnung in eine diffuse Informationslage zu bringen, sie können auch schnell eine Gewichtung vornehmen.“[3]

Für die Gedächtnisleistungen eines älteren Menschen sind jedoch nicht nur die organischen Voraussetzungen des Gehirns wichtig, sondern auch das Vertrauen in das Gehirn. Unser Gehirn geht bei der Informationsspeicherung sehr selektiv um. „Nur ein Bruchteil dessen, was wir erlebt haben, wird abgespeichert und das, was abgespeichert wurde, unterliegt zu einem grossen Teil dem Vergessen.“[4]

Wollen wir im Alter möglichst viel Gelerntes behalten, ist es von Vorteil, kleine Lerneinheiten einzuplanen. Diese Lerneinheiten sind dafür umso häufiger zu wiederholen und aktiv anzuwenden.

„Unkonzentriertheit ist einer der Hauptgründe für Vergesslichkeit im Alter und hat nur wenig mit dem Langzeitgedächtnis zu tun“.[5] Oft gehen die Informationen bereits bei Beginn der Informationsverarbeitung verloren, weil sie nicht mit genügend Aufmerksamkeit aufgenommen werden.

Hören wir einen neuen Namen, den wir behalten möchten, dann müssen wir ihn deutlich und klar verstehen (Gehör). Um dem Gehirn eine Chance zu geben, den Namen abzuspeichern, müssen wir ihn für uns selbst wiederholen und die Person mit dem Namen ansprechen.

Ausserdem ist es wichtig, sich nicht unter Druck zu setzen, weil Stress dazu führt, dass die zuständigen Nervenzellen im Gehirn ihre Arbeit einstellen und die abgespeicherten Informationen nicht mehr abgerufen werden können.

Wenn wir eine Erinnerung nicht mehr genau wiedergeben können, hat dies nicht zuletzt damit zu tun, dass wir kein objektives Erinnerungsvermögen haben. Die momentane Stimmungslage, Vorurteile oder gar die Art und Weise des Abfragens beeinflussen die Erinnerung und damit die Erzählung oder Antwort. (Genau diese Eigenschaft wird in der Lebensrückblick-Therapie genutzt, s. unten)

Blandine-Josephine Raemy-Zbinden
Mai 2016 


[1] Korte, Jung im Kopf, S. 85.

[2] Ebd., S. 183.

[3] Ebd., S. 183-184.

[4] Ebd., S. 144.

[5] Ebd., S. 145.

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